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im Rheinland

Der Beginn der sozialen Fürsorge für Kriegsversehrte im Rheinland:

"…und sie auf diese Weise mit neuem Lebensmute zu erfüllen"

24. und 27. Februar 1915 - Die Rheinische Provinzialverwaltung nimmt sich der sog. "Kriegsbeschädigtenfürsorge" an

Nachdem die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg an der Westfront zerstoben waren, fand Ende Januar 1915 in Berlin eine außerordentliche Konferenz der Landeshauptmänner der Provinzialverbände statt, auf der die zukünftige Regelung der sog. "Kriegsbeschädigtenfürsorge" diskutiert wurde. Ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn war offensichtlich, dass die Einrichtung einer organisierten Fürsorge dringend notwendig war. In Westfalen war man Anfang des Jahres bereits zur Tat geschritten und hatte eine entsprechende Organisation gegründet.[1] Der Landeshauptmann der Rheinprovinz, Ludwig von Renvers, meldete auf der Berliner Konferenz jedoch Zweifel an, dass diese Aufgabe des Staates und des Reiches sowie der Militärverwaltung auf die Provinzen übertragen werden sollte und könnte. Dagegen wurde von staatlicher Seite, vertreten durch Ministerialdirektor Dr. Friedrich Freund, die Dezentralisierung dieser Aufgabe befürwortet und festgestellt: "Die Provinzen besitzen bereits für die Ausübung der Fürsorge geeignete Anstalten, an denen nicht vorübergegangen werden kann, zumal mit den Anstalten regelmäßig Nebenbetriebe verbunden sind, welche für die Durchführung einer die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit bezweckenden Invalidenfürsorge von besonderer Wichtigkeit sind."[2]


Es ging im Gegensatz zu früheren Regelungen eben nicht mehr um eine rein finanzielle Versorgung der im Kriege Verwundeten oder ihrer Hinterbliebenen in Form von Renten.[3] Man wollte stattdessen den Kriegsversehrten die Möglichkeit bieten, nach oder parallel zu einer medizinischen Betreuung eine neue Existenz aufzubauen. Durch Berufsberatung und -ausbildung, Umschulung sowie Arbeitsvermittlung sollten sie wieder erwerbstätig werden. Darüber hinaus sollten die betroffenen Familien bei der Erziehung von Waisen sowie in der Krankenversorgung von Witwen und Kindern unterstützt werden.[4] Die Förderung der Erwerbstätigkeit als soziale Neuerung war freilich im Kern eine finanzielle Frage: Staat, Kommunalverbände und Gemeinden waren stark daran interessiert, dass die vielen Kriegsversehrten, die sich und ihre Familien mittels der Renten kaum versorgen konnten, wieder in die Lage versetzt wurden, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.[5]

Da die Berliner Konferenz schließlich die Empfehlung ausgesprochen hatte, Fürsorgeorganisationen einzurichten, deren Mittelpunkt die Provinzialverwaltungen sein sollten, lud der Oberpräsident der Rheinprovinz am 24. Februar 1915 den Landeshauptmann von Renvers zu einer Beratung ein, wie die Kriegsversehrtenfürsorge im Rheinland zu organisieren sei. Es wurden sieben Leitsätze beigegeben, deren erster lautete:

"1. Es ist als eine dringliche und sofort in Angriff zu nehmende Aufgabe anzusehen, den Kriegsbeschädigten durch eine geeignete Behandlung und Beratung die Erwerbsfähigkeit nach Möglichkeit zu erhalten oder zurückzugeben und sie auf diese Weise mit neuem Lebensmute zu erfüllen."[6]


Weiter wurde befürwortet, dass die Fürsorge solange von der Militärverwaltung ausgeübt werde, wie die Kriegsversehrten Militärdienst leisteten. Die Provinzialverwaltung sei jedoch bereit, auch schon in dieser Zeit tätig zu werden, wenn die aufgewendeten Kosten ersetzt würden. Nach der Entlassung der Kriegsversehrten übernehme die Provinzialverwaltung die Fürsorge. Ferner sollte ein Tätigkeitsausschuss unter Vorsitz des Landeshauptmanns gebildet werden, in den auch Chefärzte der Lazarette, Bezirkskommandeure und örtliche Berater, insbesondere aus Organen des Roten Kreuzes, zu berufen waren. Dieses Gremium hatte die Fürsorgebedürftigen zu ermitteln und für ihre Behandlung Sorge zu tragen.

Vom 27. Februar 1915 sind weitere "Leitsätze zur Besserung der Erwerbsfähigkeit der Kriegsbeschädigten" überliefert, unterzeichnet von Landesrat Dr. Johannes Horion. Nach seiner Vorstellung sollte diese Besserung durch geeignete ärztliche und orthopädische Behandlung sowie durch Überführung in einen geeigneten Beruf bzw. Vermittlung passender Beschäftigung erreicht werden. Wichtig sei, dass beide Maßnahmen Hand in Hand gehen. Es wurde vorgeschlagen, die Rheinprovinz in zehn bis zwölf Bezirke einzuteilen, deren Zentrum jeweils ein Lazarett mit geeigneten orthopädischen Einrichtungen sowie Handwerkstätten und landwirtschaftlichen Betrieben bilden sollte. Für diesen Zweck sah man die Lazarette an den großen Provinzialanstalten als ideale Einrichtungen an. "Bei der Ausübung der Fürsorge müssen entsprechend den beiden Aufgaben der Fürsorge zusammenarbeiten: ein geeigneter Arzt und ein Mann des praktischen Lebens, der besonders über Kenntnisse und Erfahrungen in verschiedenen Handwerksbetrieben und in der Landwirtschaft verfügt. Diese beiden bilden die Berufsberatungskommission des Bezirks (…) Die ganze Wirksamkeit der vorgeschlagenen Organisation wird davon abhängen, für die Kommissionen die geeigneten Herren zu finden, die nicht nur die Begeisterung für die gute Sache, sondern auch das nötige praktische Verständnis mitbringen (…)."[7]

Da jedoch viele Leiter der Provinzialanstalten oder ihrer einzelnen Betriebe selbst im Krieg kämpften, sei die Einrichtung solcher Zentralen zunächst nur an zwei Stellen sofort möglich: an der 1912 gegründeten Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau für den nördlichen Teil des Regierungsbezirks Düsseldorf und an der "Krüppelanstalt" Dormagen-Stiftung in Köln[8], wo sich eventuell der Arbeitsinspektor der Provinzial-Arbeitsanstalt Brauweiler als berufsberatender Partner zum Arzt anböte.


Im März 1915 wurde der vom Oberpräsidenten der Rheinprovinz anvisierte Tätigkeitsausschuss gegründet, in dem die wichtigsten einschlägigen Behörden und Organisationen (u. a. Kommunalverwaltungen, Sanitätsämter, Landesversicherungsanstalt, Landwirtschafts-, Handwerks- und Handelskammer, Vereine und Gewerkschaften, Rotes Kreuz etc.) vertreten waren. Diesem waren vier Spezialberufsberatungsstellen nachgeordnet. Im August wurde der Tätigkeitsausschuss dem Reichsausschuss für Kriegsbeschädigtenfürsorge in Berlin als Dachorganisation unterstellt. Noch im gleichen Jahr konnte die Rheinprovinz in ca. 80 Land- und Stadtkreisen Ortsausschüsse zu diesem Aufgabengebiet vorweisen, lange bevor durch die "Verordnung über die soziale Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge" von 1919 solche örtlichen Einrichtungen Pflicht wurden. Darüber hinaus gründete der Provinzialverband eine eigene Beratungsstelle für Kriegsversehrte mit Kopf- und Gehirnverletzungen, die in Köln ansässig war, und unterhielt verschiedene weitere Projekte wie die sog. "Kriegsbeschädigten- und Blindenwerkstatt" in Essen. 1924 wurde die soziale Fürsorge endgültig und umfassend gesetzlich geregelt und die Aufgaben und Kosten auf die Länder und Fürsorgeverbände übertragen. Die kommunale Fürsorge erfuhr auf dieser Weise durch den Ersten Weltkrieg eine tiefgreifende Modernisierung und Anpassung an neue Aufgaben. Freilich verschlechterte sich die finanzielle Lage der Kriegsversehrten durch die kriegsbedingte Inflation, Reparationszahlungen und die Wirtschaftskrise trotz des Einstellungszwangs und Kündigungsschutzes, den sie teilweise genossen. Diese Entwicklung hielt bis in die 1930er Jahre an, was von der nationalsozialistischen Propaganda ausgenutzt wurde.


[1] 50 Jahre Kriegsopfer- und Schwerbeschädigtenfürsorge, S. 12f.

[2] ALVR, Nr. 50479, Bl. 14-15.

[3] Eine einheitliche Versorgung wurde mit der Gründung des Deutschen Reiches möglich im "Gesetz betreffend die Pensionierung und Versorgung der Militärpersonen des Reichsheeres und der kaiserlichen Marine sowie die Bewilligung für die Hinterbliebenen solcher Personen", genannt "Militärpensionsgesetz von 1871". 1906 regelte das Mannschaftsversorgungs- und Offizierspensionsgesetz die Rentenhöhe nach dem Grad der Erwerbsunfähigkeit und dem Dienstgrad, vgl. Helmut Rühland, Entwicklung, heutige Gestaltung und Problematik der Kriegsopferversorgung in der Bundesrepublik Deutschland (Diss. maschinenschriftl.), Köln 1957, S. 21, 23.

[4] Paul Gerlach, Fürsorge für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, in: Die Rheinische Provinzialverwaltung. Ihre Entwicklung und ihr heutiger Stand, hg. v. Johannes Horion, Düsseldorf 1925, S. 283-304, hier S. 283.

[5] 50 Jahre Kriegsopfer- und Schwerbeschädigtenfürsorge, S. 17.

[6] ALVR 50479, Bl. 38.

[7] ALVR 50479, Bl. 29.

[8] Dieser Vorschlag wurde nicht umgesetzt, erst nach dem Zweiten Weltkrieg fanden hier Kriegsversehrte Hilfe bei der Wiedereingliederung in den Beruf, vgl.: 100 Jahre Städtisches Behindertenzentrum Dr. Dormagen-Guffanti, 1913-2013, hrsg. von den Sozial-Betrieben Köln. Köln 2013, S. 40. Schon bei der Eröffnung der Dormagen-Stiftung 1913 wurde die Bezeichnung "Krüppelheim" als diskriminierend kritisiert. Vgl.: ebd., S. 20.

[9] Gerlach, Fürsorge, S. 284.

[10] Rühland, Entwicklung, S. 33.

[11] Gerlach, Fürsorge, S. 295f.; Rühland, Entwicklung, S. 66f.

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Weiterführende Quellen und Literatur

  • Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland, Bestand Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene der Rheinprovinz
  • 50 Jahre Kriegsopfer- und Schwerbeschädigtenfürsorge. Dokumentation über Entwicklung und Rechtsgrundlagen aus Anlaß der 50jährigen Wiederkehr der Verkündigung der Verordnung über die soziale Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge vom 8. Februar 1919, München 1969.
  • 100 Jahre Städtisches Behindertenzentrum Dr. Dormagen-Guffanti, 1913-2013, hrsg. von den Sozial-Betrieben Köln. Köln 2013;
    online abrubar: Broschüre "100 Jahre Städtisches Behindertenzentrum Dr. Dormagen-Guffanti" (PDF, 4,71 MB) (abgerufen am 18.02.2015)
  • Christoph Sachße und Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871-1929, Stuttgart u.a. 1988, vgl. zur Kriegshinterbliebenen- und Kriegsbeschädigtenfürsorge, S. 89-92.
  • Christoph Sachße, Von der Kriegsfürsorge zum republikanischen Wohlfahrtsstaat, in: Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848-1998, hg. v. Ursula Röper und Carola Jüllig, Berlin 1998, S. 194-205.

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